Volksstimme vom 1. November 2007: Brutal und hilflos. Zwei gegen den Rest der Welt

Als einen Beitrag der Initiative aller sachsen-anhaltischen Theater „Republik der Phantasie“ hatte am Nordharzer Städtebundtheater das Stück „Disco Pigs“ des irischen Autors Enda Walsh Premiere. Die Inszenierung von Krzysztof Minkowski beeindruckte das überwiegend jugendliche Premierenpublikum sichtlich.

Von Dr. Herbert Henning

Halberstadt. Es waren kurze Stücke wie Gewitterstürme, die vor zehn Jahren aus Großbritannien und Irland auf unserer Bühnen kamen. Junge Autoren wie Sarah Kane, Marc Ravenshill und Enda Walsh schrieben sich ihre Wut und Träume von der „Seele“, rebellierten in ihren zum Teil schockierenden Stücken über Gewalt, Sex und Tod gegen die Welt um sich herum.

„Disco Pigs“ von Enda Walsh war eines dieser Stücke. Auf nur wenigen Seiten erzählt er von zwei 17-Jährigen, die sich Runt und Pig nennen, am selben Tag geboren und unzertrennlich miteinander aufgewachsen sind. Sie saufen, stehlen, randalieren, gehen in die Disco und fahren ans Meer. Sie sind brutal und aggressiv gegenüber anderen und fast zärtlich und fürsorglich miteinander.

Wenn sie auch nichts in ihrem tristen Leben haben, haben sie immer noch sich. Beide verbindet eine symbiotische Beziehung. Sie empfinden die viel zu enge kleine Stadt und das Leben als „ein großes schwarzes Fass voller Schwarz“. Ihre gewalttätigen Fantasien treiben sie um. Sie sprechen in ihrer Sprache zwischen Slang und „Ba-Ba“-Kindersprache, die nur sie verstehen.

Sie feiern ihren 17. Geburtstag, sind erwachsen geworden und merken unter Schmerzen, dass ihre Sprache und Träume, die sie allein nur miteinander teilten, nicht mehr so funktionieren. Aus den Rollenspielen über gemeinsam Erlebtes, den Erinnerungen an das „Zoom“ zwischen ihnen und dem „Happy sein“-Gefühl danach reift die Erkenntnis, dass Pig („Schwein“) und Runt („Ferkelchen“) sich von einander weg bewegt haben. Runt geht, und für die beiden Jugendlichen ist das Ende einer Freundschaft die Chance für etwas ganz Neues.

Thomas Ostermeier setzte 1998 im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses bei seiner Inszenierung von „Disco Pigs“ auf die gewalttätige Energie seiner Figuren und auf ein atemberaubendes Spieltempo. Sein Regie-Schüler an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin, Krzysztof Minkowski, und Konrad Schaller (Ausstattung) interessiert nun am Nordharzer Städtebundtheater viel mehr, warum eine so intensive Freundschaft zwischen zwei Menschen auseinandergeht.

Sie entdecken in Pig und Runt das langsame Bewusstwerden der Sinnlosigkeit einer Beziehung, die auf Aggression und Gewalttätigkeit und ein „Inseldasein“ baut. Und die aktuelle Inszenierung zeigt mit zwei wunderbaren Schauspielern in einem theatralen Spiel zwischen Komik und Melancholie und ganz großen Emotionen das Erwachsenwerden von jungen Menschen, die eine Welt ohne Arbeit, Perspektive, Geld, Familie und Geborgenheit als grausam erleben.

Jens Tramsen ist ein schlaksiger Pig, der für seine Runt immer wieder neue zärtliche Namen erfindet, wie „Kumpalina“, „Herzchen“ oder „Catwoman“ und „Schokoladenkuss“. An seiner Seite spielt die wunderbare Susanne Hessel eine mädchenhafte Runt – zerbrechlich wirkend und doch ganz Powergirl. Beide spielen mit großem körperlichen Einsatz das hervor, was hinter der rauen „Schale“ der beiden Figuren an Zärtlichkeit und emotionaler Verwirrung verborgen ist.

Und dies bis zur Gewalttätigkeit, bis zur physischen Verzweiflung und fern jeglicher Peinlichkeit auch sexuellen Obsession, wenn Pig seine sexuellen Fantasien bis ins Detail outet und Runt regungslos dasitzend seine Worte aufsaugt. Das Gesicht, die Augen, die Lippen von Susanne Hessel sagen hier mehr als alle Worte.

Jens Tramsen und Susanne Hessel spielen mit großer Überzeugungskraft die Brüche im Verhalten der beiden verlorenen Kids so brutal und aggressiv wie „Bonny & Clyde“ und so ängstlich und hilflos wie „Hänsel und Gretel“ im Wald. „Sie will, dass es uns wirklich so gibt. Sie bin ich“, sagt Pig. Und solche Sätze gehen wie viele in diesem Stück unter die Haut.

Dem Regisseur gelingt es, diese Geschichte aus der Authentizität Irlands und seiner Landschaft am Meer heraustreten zu lassen. Sie kann hier und heute, nebenan und unter uns spielen und das nicht nur, weil in den Erlebnis-Erinnerungsspielen von Pig und Runt solche Sätze wie „Hau ab, schwule Theatersau“ unvermittelt an die nächtlichen Gewalttätigkeiten im August 2007 in Halberstadt gegenüber Schauspielern des Theaters erinnern.

Die Schüler waren begeistert und berührt, offen und ehrlich in ihren anschließenden Meinungsäußerungen zum Stück und zum Spiel. Und sie haben ein Stück ihres eigenen Lebens wiedererkannt, das sie nachdenklich stimmt. Kann Theater mehr leisten?

Die nächsten Vorstellungen von „Disco Pigs“ sind in Halberstadt am 3. und 25. November und in Quedlinburg am 17. November zu sehen.