Halberstädter Volksstimme vom 2. November 2007: Gemeinsam einsam gegen alles
Mit dem Zweipersonenstück „Disco Pigs“ des Irischen Dramatikers Enda Wash gelang dem Nordharzer Städtebundtheater in der Inszenierung von Krzysztof Minkowski und der Ausstattung von Konrad Schaller eine lebendige Punktlandung im Zentrum von Aktualität und Bühnenwirksamkeit.
Von Jörg Loose
Quedlinburg. Am Anfang steht der erwartungsvolle Blick eines Mädchens in das Publikum. Was wird dieser Abend, was wird das Leben bringen, und was ist die Farbe der Liebe?
Dieser Abend ist ihr 17. Geburtstag, Darin und Sinead, die sich Pig (Jens Tramsen) und Runt (Susanne Hessel), Schwein und Ferkel nennen, wurden vor 17 Jahren zur selben Zeit, im selben Zimmer geboren und sie sind Seelenverwandte. Sie kotzen über die gleichen Typen, haben ihren eigenen Slang, ihre eigene Welt in der sie King und Queen sind und sie atmen seit 17 Jahren die gleiche miefige Luft einer Kleinstadt gegen die sie saufend, prügelnd, klauend und träumend revoltieren. Dies ist der Abend der Abrechnung, des Auf- und Ausbruchs, des blinden Aufbegehrens, und damit des harten Aufpralls in der Realität.
In Zeiten, da wir uns mit Demokratieverdruss, Nullbockstimmung und wachsender (rechtsradikaler) Gewaltbereitschaft als einem latenten gesellschaftlichen Phänomen zunehmend abfinden, machen sich Stück und Inszenierung nicht gerade auf die Suche nach konkreten sozialen Ursachen. Aber unterhaltsam und eindrucksvoll wird deutlich, wie sich die Spirale zunehmender Gewaltbereitschaft oft unmerklich immer weiter dreht und auf welchem gesellschaftlichen Boden sie steht.
Stakkatoartig berichten beide während einer Fahrt ans Meer von den Revolten gegen alles, was ihren teeniehaften Erfahrungshorizont überschreitet. Stets unter Volldampf läuft die rasant atemlose Mischung einzelner, zunächst zusammenhangloser Szenen ab, die aber in ihrer Summe die Moleküle des sozialen Miefs ergeben, dem Pig und Runt ausgesetzt sind. Bitterböse Parodien charakterisieren schnell ein Lebensumfeld, das nur stumpfe, gesellschaftskonforme Gleichschaltung oder strikte Oppositionshaltung zulässt.
Da gibt es, beim Besuch einer Spießbürgerkneipe, eine krasse Heino-Parodie, deutschnationalen Fußballmief in Hitlerattitüde, eine witzig böse Mozartparodie als Attacke wider das Kulturestablishment… Das alles ist von der Regie mit lokalen Befindlichkeiten aktuell gewürzt, hat ungemeines Tempo in verstümmelt urwüchsiger, brachial saftiger Sprache, deren Entschlüsselung vor allem dem etwas reiferen Zuschauer höchste Konzentration abfordert.
Neben der atemlosen Hatz durch die Antiweit von Pig und Runt gibt es immer wieder innehaltende Szenen von berührender seelischer Intensität, die eine Verletzlichkeit, eine Sehnsucht der 17-Jährigen nach Geborgenheit offenbaren. Da sind beide endlich am Meer. Und das Meer ist weit, unbegrenzt, wild und vor allem frei – und die Farbe der Liebe ist blau. Oder die Schilderung erster, gemeinsamer sexueller Erfahrungen. Das ist völlig frei von aufgesetztem Jugendslang, setzt gefühlte Kontrapunkte und zeigt ganz normale Kids.
Tramsen und Hessel nimmt man die Hasstiraden und das krude aufschäumende Gedankenkonglomerat von 17-Jährigen ab. Was sie sagen und spielen wirkt absolut authentisch, und die zahlreichen (parodistischen) Bewährungsproben sind keine Bravournummern schauspielernder Stars, sondern Ausdruck echten Lebensgefühls und doch grandios und umwerfend (komisch) gespielt.
Die Farbe der Liebe ist blau – wie das Meer – weit, unbegrenzt, wild und vor allem frei. Dass muss auch Pig erkennen, als beide ihren großen Traum vom Besuch eines Diskoschuppens verwirklichen und Runt sich mit einem anderen Typen einlässt. Was sich in den zuvor geschilderten Episoden noch halbwegs humorig gab, explodiert nun zu einem gewaltsamen, tödlichen Ende. Mit einer Lebensauffassung, die – frei von eigenen Werten und Moralvorstellungen – auf einem reinen „Dagegen“ basiert, wird Pig mit der Bedrohung seiner gemeinsam-einsamen, kleinen heilen Welt durch den Konkurrenten bei Runt nicht fertig, prügelt diesen brutal zu Tode und flieht. Das Mädchen bleibt am Ende allein und blickt, nun verunsichert, wieder ins Publikum, die Musik dödelt „I lost my mind“, das Meer ist immer noch blau – und so tief wie die bleibende Hoffnungslosigkeit.
Eine brachiale Explosion für Auge, Ohr, Hirn und Herz – nicht nur für Jugendliche – und mit begeistertem Applaus gefeiert. Hingehen, angucken!